Der Sinn der Beobachtung

Begriffliche Untersuchungen

  • Erscheinungsdatum: 12.05.2004
  • Paperback
  • 136 Seiten
  • 22.2 x 14 cm
  • ISBN 978-3-934730-76-2
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Beschreibung


Die Welt, wie sie für Sinnsysteme vorkommt, ist beobachtete Welt. Auch der Satz, daß Beobachtung ein Letztbegriff ist, ist der Ausdruck einer Beobachtung. Deswegen ist es gerechtfertigt zu sagen, daß jede Theorie der Beobachtung (wiewohl sie selbst nichts weiter als der Ausdruck von Beobachtungen ist) eine Theorie der beobachteten Welt sein muß und selbst eine Form der Beobachtung ist. Sie ist nicht ohne die Paradoxien der Selbstreferenz zu haben.

Nicht nur, daß sich die Theorie der Beobachtung im Kontext der neueren soziologischen Systemtheorie wesentlich auf einen Autor beruft, nämlich auf George Spencer-Brown, der sehr wohl Anlaß gibt, ihm Nähe zum Mystischen, Okkulten, mithin auch Magischem anzusinnen; nicht nur, daß der Theorie von ihren Gegnern unterstellt wird, sie huldige einer Art esoterischen Hermetik, die Paradoxien schätzt, Zirkularitäten zelebriert und alles in allem eine um Kausalitäten unbekümmerte, abstrakte Luftigkeit inszeniert. Es ist schlimmer: Der Schlüsselbegriff der Beobachtung, von dem behauptet wird, daß er die zentrale Operation bewußter und sozialer Systeme bezeichne, besagt im Prinzip, daß die Welt der Beobachtung entsteht, ohne daß sich der Täter dieser Operation ausmachen lasse. Der Beobachter verschwindet hinter seinen Beobachtungen. Er ist immer – imaginär.

Und wer dann wenigstens die Operation der Beobachtung haben will, kann nur feststellen, daß es für ein ›Haben‹ immer schon zu spät ist, da die Operation der Beobachtung einer Beobachtung schon eine weitere Operation ist, ein Vorgang, der sich sehr genau mit dem (Un)Begriff différance formulieren läßt. Sobald von Beobachtung die Rede ist, verdunsten selbst die entia realissima der Tradition, und bezogen auf die Soziologie: die Agenten, Akteure, die Handelnden. An deren Stelle treten körperfreie Systeme wie Bewußtseine, wie Sozialsysteme, die als autopoietische Systeme konzipiert sind: als nachgerade münchhausiadische Sich-selbst-Verfertiger, die im Medium Sinn operieren, in der seltsamen Konnexität selektiver Verweisungen, in einem Medium also, das Nähmaschinen, Regenschirme, Operationstische, Grinse- und eingekastelte Schrödinger-Katzen so gut in Kontakt bringt wie Terrorzentralen, Madonnen und kannibalistische Orgien.
Dies alles klingt nach abstrakter Magie, nach theoretischem Budenzauber und nach der Poesie der frühen Romantik. Und doch – so fern ist dies alles einer handfesten Soziologie nicht. Es ist ja denkbar, daß die soziale Realität (und nicht nur ihre theoretische Beobachtung) magische Züge und ebendarin ihre Realität hat, wohingegen hartnäckige Ontologen und Realisten diejenigen wären, die magischen Bezwingungspraktiken unterliegen. Unter solchen Vorausetzungen kann eine Vergewisserungspause notwendig werden, in der die Grundbegriffe noch und wieder einmal durchgeprüft, radikalisiert, auf Bruch- und Konsistenzmöglichkeiten abgetastet, kurz: traktiert werden.

Ebendies tut Peter Fuchs in einem Tractatus, der – formal orientiert an dem Tractatus logico-philosophicus von Ludwig Wittgenstein – die Schlüsselbegriffe der Systemtheorie einer Art ›Säurebad‹ aussetzt, um den Ballast der Erzählung, die durch die Begriffe möglich wird, und mitunter auch die Patina dieser Erzählung aufzulösen. Beobachtung, Medium und Form, Komplexität und Kontingenz, System und Differenz, Autopoiesis, Sinn, Struktur, Geschlossenheit und strukturelle Kopplung, Interpenetration, Gedächtnis, Kommunikation, Bewußtsein, Inklusion/Exklusion – Person – so heißen die Kapitel dieses zutiefst asketischen, die Tugend der brevitas schätzenden (und deshalb auch dem Umfang nach dünnen) Buches. Es ist eine Herausforderung – an die Freunde, an die Feinde der Theorie. In einem sehr genauen Sinne ist es unfreundlich, bizarr, alles andere als konziliant.

Wer sich aber für den 'Sinn der Beobachtung' interessiert, wird sich faszinieren lassen durch dieses Unterscheidungsspiel auf kleinstem Tanzplatz und in einen Sog geraten, dem er sich kaum noch entziehen kann – wenn er nur den ersten Satz, der der Null-Satz ist, akzeptiert: Beobachtung nehmen wir als Letzt- oder Leitbegriff, der immer vorausgesetzt ist.

Peter Fuchs


Peter Fuchs
© privat
Peter Fuchs war von 1992 bis 2007 Professor für Allgemeine Soziologie und für Soziologie der Behinderung an der Hochschule Neubrandenburg. Unter anderem bei Velbrück Wissenschaft erschienen: DAS Sinnsystem (2015); Der Fuß des Leuchtturms liegt im Dunkeln (2015); Systemerien (2018); Die Lehre vom Saint Délire (2022, mit Markus Heidingsfelder).

Pressestimmen


Selbstvergewisserung bietet das scharfsinnige Buch des Soziologen Peter Fuchs. Unter Verzicht auf Anmerkungen und einen wissenschaftlichen Apparat analysiert Fuchs, ein ausgewiesener Schüler von Niklas Luhmann, dreizehn zentrale Begriffe der Systemtheorie. (...) Fuchs ist ein kluges und äußerst sympathisches Buch gelungen, das sowohl die Freunde als auch die Gegner der Systemtheorie zu entsprechenden Reaktionen herausfordern wird.(...) Fuchs' Werk ist ein eigenwilliges, aber - auch für Historiker - interessantes und lesenswertes Buch. Auf nachfolgende Werke des Autors darf man gespannt sein.
Dirk Fleischer, Zeitschrift für Geschichtswissenschaften, 53. Jg. 2004.
Peter Fuchs möchte mit der Systemtheorie Ernst machen und rät deshalb, das Leben auf den Kopf zu stellen. Peter Fuchs hat wieder ein wunderbares Buch geschrieben - für die einen. Die anderen werden es verteufeln. Als zu abgehoben, abstrakt, antihumanistisch.(...) Aber warum sollte es einem Meisterschüler Luhmanns besser gehen als es dem Meister selbst erging? Fuchs liefert ein hochgezüchtetes Kontrastprogramm zur soziologischen Literatur, wie man sie kennt.(...) Doch obendrein literarisch lustvoll, so daß selbst ein hartgesottener, bärbeißiger Alteuropäer sich verführt sehen könnte - und sollte - das ihm bislang fremde systemtheoretische Terrain zumindest versuchsweise zu betreten.(...) Denn - ich gebe es zu - Fuchstexte machen süchtig. In der Literatur vergleichbar mit denen von Thomas Bernhard. Naturgemäß. Meinetwegen auch Harry Potter.
Walter Grasnick, FAZ, 24. September 2004.