Entgrenzungen

Ein europäischer Beitrag zum Diskurs der Moderne

  • Erscheinungsdatum: 27.11.2009
  • 680 Seiten
  • 2. Auflage 2016, broschiert
  • 22.2 x 14 cm
  • ISBN 978-3-938808-71-9
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Beschreibung


Im 20. Jahrhundert bilden sich in der euroamerikanischen Philosophie drei paradigmatische Haltungen gegenüber der Moderne heraus: Eine radikale Aufklärungskritik entlarvt das neuzeitliche Denken als ein planetarisch wucherndes Machtsyndrom ohne Auswege aus der Krise weisen zu können (Heidegger, Horkheimer/Adorno, Foucault); die philosophische Postmoderne, die die Moderne auf ein kulturelles Phänomen reduziert, setzt die emanzipatorischen Errungenschaften der Neuzeit aufs Spiel (Rorty, Lyotard); Verteidiger der Aufklärung bestimmen die Moderne als einen vorläufigen Endpunkt eines menschheitlichen Lernprozesses, ohne die kulturimperialistischen Implikationen ihrer Deutung hinreichend zu reflektieren (Habermas).
Vor diesem Hintergrund wird in dieser Arbeit der Versuch unternommen, die Moderne jenseits der Alternative 'Vernunft versus Macht' als einen vielschichtigen Prozess von Entgrenzungen zu beschreiben, in dem von Anfang an rationale Durchbrüche und kulturelle Visionen miteinander verschmolzen sind. Den Ausgangspunkt der Analyse bilden die frühneuzeitliche Astronomie und – angestoßen durch die Kolonialismuskritik der latein-amerikanischen Philosophie – die transozeanische Expansion Europas im 15. Jahrhundert. Da Kosmologie und Geographie in der Antike jeweils mit anthropologischen, moralischen und politischen Vorstellungen eng verbunden sind, führen die Entgrenzungen der ptolemäischen Kosmologie und der Ökumenegeographie zu einem umfassenden kulturellen Umbruch, der sich bereits in der Philosophie der Renaissance in einem komplexen Spiel von 'Entgrenzungen' manifestiert: Nikolaus von Kues gelangt noch vor Kopernikus durch eine neue Philosophie des Absoluten zur Vorstellung eines grenzenlosen Universums; im Bann der Idee einer immanenten Unendlichkeit der Welt vollzieht Cusanus darüber hinaus eine epochal bedeutsame Aufwertung unersättlicher Weltneugier, in der die traditionellen Vorbehalte gegenüber der curiositas im antiken und christlichen Denken zurück-gedrängt werden. Pico della Mirandola überwindet die essentialistische Anthropologie der Antike durch die Idee einer schöpferischen Selbstgestaltung des Menschen, die von Montaigne zum typisch neuzeitlichen Ethos einer experimentellen Selbsterkundung bzw. Selbstkreation fortentwickelt wird. Francisco de Vitoria hingegen entwirft unter dem Eindruck der Eroberung Amerikas einen neuen Kosmopolitismus, in dem sich eine Fülle an epochalen Innovationen findet: eine philosophisch fundierte Völkerrechtstheorie, die Utopie einer kommunikativ verfassten Weltgesellschaft, die Ausweitung moralisch-politischer Verantwortung auf die gesamte Menschheit bis hin zur Pflicht zu humanitären Interventionen.
Wie in der Philosophie der Renaissance so sind auch in den philosophischen Grundlegungen moderner Wissenschaft, Politik und Ökonomie jeweils rationale Elemente und kulturelle Perspektiven miteinander vermengt: Bei Francis Bacon verbindet sich das Programm einer experimentellen Naturwissenschaft mit der Vision einer vollständigen Entfesselung der produktiven Kräfte von Mensch und Natur; Thomas Hobbes konstruiert den modernen Staat im Ausgang vom extremen Szenario der universellen Entfesselung der Macht; John Locke gelangt von der Rechtfertigung der Geldwirtschaft zur Idee eines grenzenlosen ökonomischen Wachstums.
Wenn die Moderne zugleich ein Prozess der Aufklärung und ein kulturelles Projekt ist, sind sowohl Proklamationen über das Ende der Geschichte als auch religiöse und säkulare Varianten eines Antimodernismus zu verabschieden. Einen Ausweg aus den verengten Bildern der Moderne, die auch realgeschichtlich in immer neuen Gewaltexzessen aufeinanderprallen, kann nur ein interkultureller Diskurs über die Moderne weisen, in dem alle Kulturen sowohl ihre aufklärerischen Traditionen als auch ihre kulturellen Visionen einbringen.

Hans Schelkshorn


Hans Schelkshorn
Hans Schelkshorn, geb. 1960, Dr. theol., Dr. phil., Habilitation im Fach Philosophie an der Universität Wien 2007; außerordentlicher Professor am Institut für Christliche Philosophie der Universität Wien. Arbeitsschwerpunkte: Theorien der Moderne, Ethik und politische Philosophie, interkulturelle Philosophie (Schwerpunkt: lateinamerikanische Philosophie).Bei Velbrück Wissenschaft hat er veröffentlicht: Entgrenzungen. Ein europäischer Beitrag zum philosophischen Diskurs über die Moderne (2009).

Pressestimmen


Das Buch bündelt eine Vielzahl von einnehmenden Studien, denen die Aufmerksamkeit einer breiten Leserschaft gewiss sein dürfte.
Cusanus Jahrbuch 2010, Kirstin Zeyer.
Eine philosophische Reflexion, die noch dazu einer interkulturellen Perspektive verpflichtet ist, kann uns, so die Hoffnung, vor neuen Einseitigkeiten und Sackgassen bewahren oder sie zumindest aufdecken. Auch in dieser Hinsicht ist die Lektüre dieses Buches ein großer Gewinn.
Polylog 24, 2010, Alois Halbmayr.