Ethik des Lebendigen

  • Erscheinungsdatum: 27.11.2009
  • Paperback
  • 208 Seiten
  • 22.2 x 14 cm
  • ISBN 978-3-938808-70-2
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Beschreibung


Die Kontingenzen des Lebendigseins sind die Möglichkeitsbedingung für Freiheit. Das ist die zentrale These einer Philosophie des Lebendigen, die es unternimmt, die Verfassung des Menschlichen in ihren materialen und leiblichen Wurzeln zu beschreiben. Sie entdeckt Signaturen der Kontingenz nicht nur in den biologischen Gegebenheiten des Organismus und in den elementaren Erfahrungen existenzieller Leibhaftigkeit, von Lust und Schmerz, sondern auch im lebendigen Selbst, das den leer gewordenen Platz des wiederholt totgesagten »Vernunftsubjekts« einzunehmen verdient. Denn alle Vermögen von Sprach- und Denkfähigkeit, die diesem zugesprochen wurden, sind wesentlich leibgebunden. Auch die Fähigkeit, »ich« zu sagen, erwächst aus den Potentialen des Lebendigen, die der homo sapiens mit anderen lebenden Wesen teilt.

Die allem Lebendigen gemeinsame Eigentümlichkeit ist die Fähigkeit zu spontaner Selbstbewegung, aus der sich evolutionär Empfindungsfähigkeit und Orientierungsfähigkeit entwickeln. Sie transformiert sich zur Gestalt eines »Subjekts vor dem Cogito«, das in der menschlichen Lebensform durch Sprache und Reflexion in »exzentrischer Positionalität« zum Ich und zur Person wird. Alle diese Fähigkeiten und das Potential an Freiheit, das sie verkörpern, verdanken sich der hochkomplexen Konfiguration des Organismus, die störbar und verletzbar ist durch Krankheit und Behinderung. Die Kehrseite der Freiheit und Offenheit des Lebendigseins sind die Grenzen und die Unwägbarkeiten organischen Lebens.

Die Ambitionen der Biotechnologie gehen dahin, diese Grenzen zu überwinden. Doch bevor man beginnt, Lebendiges technisch zu reparieren oder herzustellen, sollte man seine Vielfalt, seinen Reichtum und seine Potentiale zur Kenntnis nehmen. Seine Kontingenzen zu respektieren und die Autonomie des Lebendigen zu verteidigen muss das Anliegen einer Kultur, einer Ethik und Politik des Lebendigen sein. Es bedarf vor allem der Kritik einer Technokultur, die Lebendiges restlos verfügbar und kontrollierbar machen will durch die Beseitigung all der Signaturen von Kontingenz, die der Spielraum, ja die Möglichkeitsbedingung seiner Freiheit sind. Noch mehr bedroht ist das lebendige Individuum, wenn es in die Reichweite biopolitischer Ambitionen der Normierung, der Selektion und Eliminierung gerät, die ihm das Recht verweigern, anders, das heißt nach geltenden Normen »imperfekt« zu sein und sein Leben zu leben, so wie es ist, mit dem Körper, den es hat, auch wenn er geltenden politischen und ökonomischen Standards nicht genügt.

Die Denkvoraussetzung der zeitgenössischen Biotechnologien ebenso wie der Biopolitiken ist die Metaphysik des Dualismus von Geist und Körper, die seit Descartes die Autonomie des Lebendigen als Lebensform dementiert und es zum willenlosen Objekt der Verfügung degradiert. Es nimmt, gemeinsam mit dem Weiblichen, den untersten Wert in der Hierarchie kultureller Werte ein. Aber das kreatürlich Lebendige ist es, das uns leben lässt. So geht es letztlich nicht nur darum, das Lebendige als Wert zu würdigen, sondern zu verstehen, dass seine Störung und Zerstörung unsere eigenen Existenzgrundlagen gefährdet.

Elisabeth List


Elisabeth List

Elisabeth List, (*1946-†2019) war Professorin am Institut für Philosophie der Universität Graz und  1996 die erste habilitierte, feministische Wissenschaftlerin an der Universität Graz. Sie wurde für ihre Arbeit in der Frauen-und Geschlechtsforschung mehrfach ausgezeichnet, unter anderem mit dem Grazer Frauenpreis für ihr Lebenswerk und dem Wilhelm-Hartel-Preis der Österreichischen Akademie der Wissenschaften.

Publikationen bei Velbrück: Grenzen der Autonomie, Ethik des Lebendigen, Vom Darstellen zum Herstellen

Pressestimmen


Die Stärke des Buches liegt in der Vielfalt disziplinärer Bezüge, die für eher spezialisierte Fachwissenschaftler interessante, sicher teils unerwartete Verbindungen einsichtig macht. Es wird in jedem Fall deutlich, dass wir erst allmählich erfahren und einsehen, wie hoch die ökonomischen, vor allem aber auch ökologischen, sozialen und individuell-persönlichen Kosten dafür sind, dass unsere Kultur stark durch Wissenschaft und Technik geprägt sind.
socialnet, Petra Schmidt-Wiborg, 29.07.2010.