Beschreibung
'War nicht vielleicht die Rhetorik auf dem richtigen
Wege gewesen mit der Vermutung, dass es um Provokationen,
um Denkanstöße, um Anregungen zur Prüfung
unkonventioneller Annahmen, kurz: um Unwahrscheinlichkeit
gehe?'
Niklas Luhmann
So, wie der Buchdruck den Schlüssel zur Neuzeit und zur
Moderne darstellt, so bildet die Rhetorik den Schlüssel
zu einem Verständnis der Antike und des Mittelalters.
Aber erst die Beobachtung der Kollision von Rhetorik
und Buchdruck lässt uns die Übergänge verstehen: Den
Untergang der Rhetorik, das Aufkommen der Subjektphilosophie
sowie den mit all dem einhergehenden
sozialen Wandel, der uns über die Neuzeit in Richtung
Moderne geführt hat.
Schließlich hatte die Rhetorik vor der Erfindung des
Buchdrucks keineswegs lediglich als eine ›nützliche
Redekunst‹ fungiert, auch wenn dieser Eindruck sich
schon deswegen bis heute aufdrängt, weil die Rhetorik
sich selbst gerne als ›Kunst der Überredung‹ beschrieb.
Wenn wir stattdessen die Rhetorik weit angemessener
als eine höchst wirkmächtige Ordnungsform des
Mündlichen einstufen, so werden wir in ihr ein Medium
erblicken können, dem der Buchdruck mit der von ihm
angetriebenen Umstellung auf Schriftlichkeit förmlich
seine Voraussetzungen entziehen musste.
Aber schon, wenn wir die Funktionsweisen von Buchdruck
und Rhetorik in einen unmittelbaren Vergleich
setzen, wird sichtbar, warum beide nicht in friedlicher
Eintracht zu koexistieren vermochten. Schließlich
hingen von ihren Funktionsweisen viele ›soziale Präferenzbildungen‹
ab, so dass das ›Weltbild der Rhetorik‹
und jenes des Gutenbergzeitalters in Gegensatz geraten
mussten: Hatte das Mündliche und mit ihm die Rhetorik
in ihren Ursachen leicht erklärbare Präferenzen in
Richtung auf Flüchtigkeit, Sinnlichkeit, Wahrscheinlichkeit
und Äußerlichkeit entwickelt, so musste der
Buchdruck bzw. die mit diesem rasch um sich greifende
›schreibend-lesende Kommunikation‹ zu einer nicht
mehr steigerungsfähigen Fixierung auf Statik und Innerlichkeit
führen. Nicht zufällig hatte das Mündliche
die ›leiblich-sinnlichen Zusammenhänge‹ (Trieb, Lust,
Sinnlichkeit, Leidenschaft und darum: die Schönheit)
betont, und ebenso wenig zufällig war es in der ›Gutenberggalaxis‹
zu einer Fixierung des (lesenden und schreibenden)
Bewusstseins und in der Folge des Inneren als
eines die Perspektive bestimmenden Zentrums (Zentralperspektive)
gekommen. Eben darum rückte dieser
›innere Ausgangspunkt‹ mit einem Mal als ›Selbst‹, als
›Ich‹, als ›cogito‹ ins Zentrum der Aufmerksamkeit, um
sich in Form einer Subjektphilosophie als eine in Alternative
zur Rhetorik stehende Folie des Sozialen anbieten
zu können.
Zudem stand die mit dem Lesen zwangsläufig aufkommende,
eher ›meditative kommunikative Grundhaltung‹
im krassesten Gegensatz zu den Eigenarten ›multimedialer
mündlicher Kommunikation‹: Während der Leser
die ›Reize der Außenwelt‹ förmlich ›abzuschalten‹ neigte,
um sich völlig auf die sinnlich ganz reizlosen ›Buchstabenreihen‹
konzentrieren zu können, ließ der Hörer
genüsslich seine Blicke schweifen. Printkommunikation
bot schon darum keinerlei nennenswerte Möglichkeiten
mehr für ›Rhetorik‹. Die seinerzeit in breiten Kreisen
aufgekommene Überzeugung, die ›neue Zeit‹ gleiche einer
Renaissance der von Rhetorik dominierten Antike,
müssen wir darum als eine von strukturfunktionaler Latenz
gedeckte Illusion bezeichnen – auch wenn sich diese
Illusion bis ins letzte Jahrhundert hinein gehalten hatte.
'Vom Weltbild der Rhetorik, vom Buchdruck und von
der Erfindung des Subjekts' versucht sich an der medientheoretischen
Rekonstruktion einer weit mehr als
2000 Jahre währenden Geschichte. Dabei wird nicht so
sehr die Rhetorik aus dem heraus verstanden und interpretiert,
was wir über die Antike und das Mittelalter
bereits zu wissen meinen, sondern es wird umgekehrt
versucht, das Geschehen im Mittelalter, der Antike sowie
der Neuzeit aus der alles Soziale ordnenden Funktion
der Rhetorik heraus zu verstehen. Den Abschluss
bildet darum eine Untersuchung der medialen Ursachen
jenes sozialen Wandels, der im Übergang von der Neuzeit
zur Moderne stattgefunden hat – ein Übergang, der
dem Beobachter Fragen aufgibt: Denn ausgerechnet
nach 1800 tauchen völlig unerwartet die innerhalb wissenschaftlicher
Kommunikation just für beerdigt gehaltenen
Kristallisationspunkte der klassischen Rhetorik
wieder auf, und zwar nicht etwa irgendwo am Rande,
sondern an zentralen Stellen, und auch nicht etwa nur
innerhalb des philosophischen, sondern gerade und vor
allem innerhalb des naturwissenschaftlichen Diskurses.
Zu dieser ›Auferstehung‹ gehört etwa die allseits
Beachtung findende Betonung des Irrationalen sowie
der Triebhaftigkeit (Schopenhauer, Nietzsche, Freud
u.a.). Mit mindestens gleich weit, wenn nicht viel weiter
reichenden Folgen für Forschung und Theorie kommt
es vor allem innerhalb der Evolutionstheorie zu einer
›skandalösen Neubewertung‹ der rhetorischen Zentralstellung
des Wahrscheinlichen sowie der Bedeutung und
Funktion, die der Schönheit innerhalb der Regelkreise
des Naturgeschehens, etwa mit Bezug auf die sexuelle
Selektion, zukommt.
Im Sinne einer Ordnungsform des Sozialen war die Rhetorik
tot. Ihre Zentralsemantiken aber hatte sie offenbar
nicht mit ins Grab genommen. Im Gegenteil, sie waren
zu neuer Bedeutung gelangt.