Rehabilitierung der Klugheit – das ist das Interesse dieses Bandes – mit dem Ziel, die im Normativen wie im Deskriptiven zuhauf anzutreffenden epistemologischen Mängel moderner praktischer Philosophie zu beseitigen, um ein umfassenderes Verständnis von praktischer Vernünftigkeit zu gewinnen und ein angemesseneres Praxiskonzept zu entwickeln. Damit könnte die von moderner Interessenethik und Gesetzesmoral in die weltfremden Randbezirke des Naturalen und Supranaturalen geschickte Vernunft in die Lebensmitte alltäglichen Handelns zurückkehren.
In unseren Vorstellungen von einem guten und richtigen Leben beziehen wir uns auf unsere Interessen, Wünsche und Ansichten, bilden wir Formen, Muster, Ordnungen für Interessen, Wünsche und Ansichten aus und entwickeln qualitative Wertperspektiven, um zu vergleichen und zu gewichten. Diese Wertperspektiven gehen weit über eine präferenzlogische Hierarchisierung hinaus; sie begnügen sich nicht mit einer lexikographischen Ordnung. Sie dekontingentisieren in einem starken Sinn, denn sie stiften Sinn und Bedeutung. Sie konstituieren unsere, obzwar kulturell vermittelte, persönliche Grammatik der Wichtigkeit, Vorzugswürdigkeit und Wünschbarkeit. In ihrem Licht beurteilen wir unsere Präferenzen und Vorhaben. Sie definieren die Standards, denen wir uns verpflichtet wissen. Sie enthalten die Kriterien unserer Selbstbewertung und entscheiden über Selbstachtung und Selbstrespekt. Sie konstituieren die praktische Ontologie unserer Selbstsorge. Als evaluatives Gravitationsfeld personaler Identität begründen sie gleichzeitig gelingende Lebensführung und Selbstwert.
Dieses sich zwischen universalistischer Moralität und rationaler Interessenverfolgung aufspannende ethische Zwischenreich wird durch die Vernunftkonzepte der Moralphilosophie und der rational choice-Theorie nicht erfaßt. Hier waltet eine praktische Vernünftigkeit, die in der modernen praktischen Philosophie sprachlos bleibt. Der ganze Bereich der ethischen Alltäglichkeit, wo das Leben hauptsächlich stattfindet, das wir führen, ist für die modernen Vernunft- und Handlungsbegriffe weitgehend eine terra incognita. Für seine rationalitätstheoretische Vermessung muß daher auf andere Begriffe zurückgegriffen werden, auf weltfähige Begriffe, die von der neuzeittypischen szientistischen Zuspitzung, von der Dramatik der Dekontextualisierung nicht gezeichnet sind.
Der vorliegende Band ist diesem Unternehmen verpflichtet. Er ist an der konzeptuellen Leistungsfähigkeit des Klugheitsbegriffs interessiert, will wissen, ob er für eine genauere Erfassung unseres praktischen Selbstverständnisses hilfreich ist, und erprobt den phronetischen Zugang zu dieser von der universalistischen und der individualistischen Rationalität gleichermaßen ausgesparten Welt der Praxis, zu dieser – in einem völlig unemphatischen Sinne: ethischen – Lebensmitte.
Seine Beiträge gliedern sich in zwei Gruppen. Die erste – mehr historische – Gruppe berichtet von den wichtigsten Stationen in der Geschichte des Klugheitsbegriffs von Platon bis zu Wittgenstein. Die zweite – mehr systematische – Gruppe untersucht die Bedeutung des Klugheitskonzepts in der praktischen Philosophie der Gegenwart, in der Handlungs- und Argumentationstheorie, in der Philosophie der Person, der Moralphilosophie und der politischen Philosophie