Der Begriff der Musikalischen Zeit verweist auf eine spezifisch musikalische Weise der Gestaltung von Zeit, also die Art und Weise, wie Musik in der Zeit abläuft. Darin sind vier Probleme ineinander verwoben: ein Modell von Zeit im Allgemeinen, eine Ästhetik der musikalischen Autonomie, die kompositiongeschichtliche Etablierung genuin musikalischer Zeit und schließlich ihre notwendige Krise in der Neuen Musik. Ferdinand Zehentreiter entfaltet diesen Zusammenhang.
Das Buch geht dabei von den Zeittheorien des Pragmatismus (G.H. Mead) und des genetischen Strukturalismus (Jean Piaget) aus. Hierbei stützt es sich auf die Studie des Autors über soziale Zeit (Operation und Ereignis, 2020). Im Zentrum steht die Kategorie der nichtlinearen Entwicklung mit ihrer Dialektik von Ereignis/Struktur. Diese wird werkästhetisch übertragen auf die musikalische Form, die dabei in ihrer Qualität als musikalische Raum-Zeit erscheint. In dieser stehen die beiden basalen Dimensionen von Zeit – offener Zeitfluss und Zeitordnung – nicht im Gegensatz, sondern in einem wechselseitigen Bedingungsverhältnis zueinander. Der musikalische Fluss zeigt sich hier als individuelle mikrologische Schrittfolge. Dergestalt eröffnet die Studie auch die Möglichkeit einer neuartigen Interpretation des dynamischen Formbegriffs von Theodor W. Adorno, der bislang den Gegensatz zwischen Form und statischem Gehäuse am radikalsten formuliert hat.
Dieses Modell wird in zwei polaren historischen Perspektiven konkretisiert. In der einen geht es um die Ausdifferenzierung der Kadenzharmonik im 17. Jahrhundert, die erstmalig Voraussetzungen für ein übergreifend entwickelndes Komponieren und damit für eine musikalische Zeit sui generis geliefert hat. In der anderen geht es um die Krise der musikalischen Zeit in der Neuen Musik. Diese resultierte aus der Zuspitzung zweier gegenläufiger Tendenzen der kompositorischen Zeitgestaltung: die Maximierung der Ereignisoffenheit von Musik einerseits und die ihres inneren Zusammenhangs andererseits. Die Konsequenzen daraus führten zur Kehrseitigkeit zwischen totaler Formalisierung des Komponierens und seiner Selbstaufhebung – und in beiden Fällen zur Aufkündigung der musikalischen Zeit. Die Interpretation der exemplarischen Versuche, mit dieser Krise umzugehen (Serialismus, Zufallsmusik, Momentform u.a.) versteht sich auch als Beitrag zu einer Autonomieästhetik der Neuen Musik.