Die Dioskuren Kastor und Pollux waren laut der griechischen Sage zugleich Zwillinge und Halbbrüder, unzertrennlich und doch verschieden. Das Bild passt auf das Verhältnis von sozialer und psychischer Realität: Sie sind untrennbar verbunden, aber in der Moderne alles andere als identisch und deshalb auch nicht aufeinander abgestimmt – mit mitunter gesellschaftsgefährdenden Folgen. Johann August Schülein diskutiert die Dialektik von Gesellschaft und Psyche sowohl systematisch als auch in historischer Perspektive.
Das Buch setzt dazu bei der evolutionären Entstehung des Menschen selbst an und beschreibt die Ko-Evolution von Psyche und Gesellschaft: Am Anfang baut sich Gesellschaft direkt mit Hilfe psychischer Leistungen auf und die Psyche stabilisiert sich durch direkte Anlehnung an soziale Muster. Mit zunehmender Differenzierung driften beide auseinander: Es entstehen zwei auf verschiedene Weise autopoietische Prozesse, die jedoch weiterhin aufeinander angewiesen sind. Damit wird der Austausch komplizierter: Es bilden sich synchron wie diachron Transformationsketten, in denen Themen psychisch wie sozial imprägniert und formatiert werden. Dadurch wird die Beziehung auch heikler; ihre Balance konfliktträchtiger.
Die volle Dramatik dieser Entwicklung zeigt sich, so die These, erst in der Moderne: Je mehr Autonomie beide Seiten haben, desto schwieriger und voraussetzungsvoller wird die Dialektik. Die Kehrseite von Emanzipation und Autonomie ist primäre Unabgestimmtheit: Die sozialen Konstitutions- und Reproduktionsbedingungen von Psyche erschweren die Entstehung hinreichend kompetenter Akteure, die Balanceprobleme ihrer Psyche erschwerten die Steuerung sozialer Prozesse. Moderne Gesellschaften brauchen kompetente Akteure, um nicht aus dem Ruder zu laufen, tun aber allerhand, um deren Entwicklung zu beeinträchtigen.
Dem Buch gelingt es in dieser Perspektive, die Beziehung von Akteur und Gesellschaft aufzuschlüsseln. Es leistet damit einen Beitrag sowohl zur Soziologie, der es zu häufig noch an subjekttheoretischem Potenzial, als auch zur Psychologie, der es an gesellschaftstheoretischem Verständnis fehlt.