In den letzten anderthalb Jahrhunderten beobachten wir ein grandioses Auflösungsspiel: Mit dem Tode Gottes ging der Tod des Menschen einher. Was der Mensch sei, worin er seine Identität finde, was er zu bedeuten habe, diese uralte Frage, kann nur noch im Modus der Ironie gestellt werden, mit einem Augenzwinkern, das auf die Unbeantwortbarkeit, das Anachronistische der Frage verweist.
Was in Theorien an Auflösungsvermögen verkraftet werden kann und muß, findet in der Welt, die durch Theorie rekonstruiert werden soll, eine Parallele: Was der Mensch sei (zu sein hat), ist nicht einmal menschen- und lebensweltlich eine ›klare Kante‹. In den Humankatastrophen der letzten hundert Jahre wird er zu einer verfeuerungsfähigen Biomasse. Man kann kaum den Eindruck gewinnen, daß sich daran etwas wirklich geändert hat. Es wird Tag für Tag hekatombenweise gestorben, gemordet, gefoltert. Der Mensch wird (gleichsam operativ) definiert als das Wesen, das man (und das sich selbst) töten kann – durch Hunger, Krankheit, Folter, Mord und Krieg, namenlos, zahllos, heute hier, morgen dort. Man könnte sich denken, daß die Lehre vom Menschen, die Anthropologie, ihren Grund verliert und eigentlich zur ›Thanatologie‹ konvertieren müßte.
Und dank Gentechnologie erscheint am Horizont die Vision, der Mensch sei nicht mehr jemand, der nach dem Bilde eines Gottes geformt sei, sondern nunmehr jemand, der in den Stand versetzt wurde, sich ein ›machbares‹ Bild von sich selber zu schaffen, die Exemplare der humanen Population so zu formatieren, daß sie (wie von ungefähr) dem alten Ideal der ›Kalokagathia‹ entsprechen: tugendhaft, schön, alters- und behinderungslos, krankheits-, rausch- und drogenfrei, angemessenen Verstandes – eine Idee der Devianzausmerzung, könnte man sagen, die Idee einer leid- und schicksalsfreien ›Ruhewelt‹, einer Re-Animation des Paradiesgedankens ohne Adam und ohne Eva.