In der außerordentlich ereignisreichen Interpretationsgeschichte von Sophokles’ König Ödipus scheint noch nie bemerkt worden zu sein, dass dieses Drama, das von einer Seuchenkrise und deren Bewältigung durch eine Maßnahme der ›Reinigung‹ handelt, mit ein wenig hermeneutischer Kühnheit als eine opferkritische Rettungstragödie gelesen werden kann, die nicht zwangsläufig auf ein vernichtendes Ende zusteuert. Diesem allgemein für die Gattung der Tragödie verloren gegangenen Wissen – dass am Ende der Mensch nicht notwendig untergehen muss, sondern gerettet werden darf – widmet sich das vorliegende Buch von Arata Takeda.
Arata Takeda zeigt in seiner Studie »Die verkannte Tragödie« detailliert die fortgesetzte Unterdrückung der einst erkannten Tatsache auf, dass die Tragödie eine ausgangsoffene Kunstform und das Tragische ein in Bezug auf dessen Finalität zwiespältiges Phänomen gewesen ist. Im Zentrum der Studie stehen zwei problemgeschichtliche Konstellationen, die ein rettungsfeindliches Tragödiendenken begünstigt haben, in ihrer spezifischen Verflechtung miteinander: die Geltungsgeschichte eines weit verbreiteten Irrglaubens, der als das Stereotyp des unglücklichen Ausganges bezeichnet werden kann, und die Unterdrückungsgeschichte eines Arguments in Aristoteles’ Poetik, das eine zur Rettung führende Ereignisfolge zum Optimum erklärte.
Mit der historisch erstmaligen Ausleuchtung der beiden Problemgeschichten will die Studie nicht weniger als eine grundlegende Neuausrichtung des Tragödienverständnisses in allen von diesen Geschichten betroffenen Disziplinen anstoßen: Altphilologie, Kulturwissenschaft, Literaturwissenschaft, Philosophie, Theaterwissenschaft und Theologie.