Zeitgemäße Erziehung

Die Konstruktion pädagogischer Wirklichkeit

  • Erscheinungsdatum: 31.10.2006
  • Buch
  • 688 Seiten
  • 22.2 x 14 cm
  • ISBN 978-3-938808-21-4
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Beschreibung


Die in der Erziehungswissenschaft vorherrschende Raummetaphorik führt zu heillosen Paradoxien. Aber nicht die Wirklichkeit ist paradox, sondern die Art und Weise, wie sich Pädagoginnen und Pädagogen die Erziehungswirklichkeit denken, erzeugt Paradoxien. Sie entstehen, weil eine zeitlich verfaßte Wirklichkeit in räumliche Kategorien gezwängt wird.
Walter Herzog schlägt deshalb vor, das metaphorische Potential der Zeit als alternative Begründung der Pädagogik zu nutzen. Im Rahmen einer modalen Zeitauffassung lassen sich die zentralen Begriffe der Erziehungswissenschaft neu bestimmen. Die zeitliche Konstruktion pädagogischer Wirklichkeit erschließt der Disziplin die Dimension der Sozialität, dank deren im pädagogischen Alltag Formen reziproker Anerkennung als Medien der Sozialintegration in den Vordergrund rücken.

Der Weg der Pädagogik zur Wissenschaft wird durch eine Metaphorik behindert, die das pädagogische Denken in eine fundamentale Paradoxie verwickelt. Im Lichte der dominierenden räumlichen Metaphern erscheint die Erziehung als überblickbare und kontrollierbare Bewegung im Raum. Damit kann nicht verständlich werden, wie sich durch erzieherisches Handeln Bildung befördern läßt. Der pädagogische Gegenstand oszilliert zwischen der theoretisch nicht einholbaren Behauptung, der Mensch werde durch Erziehung zu sich selber befreit, und der praktisch absurden Imagination seiner Unterwerfung durch eine unbegrenzte pädagogische Kausalität.

Der Autor empfiehlt der Erziehungswissenschaft, die Paradoxie ihres Gegenstandsverständnisses durch einen Wechsel der Metaphorik aufzulösen, nämlich: anstelle des Raumes das metaphorische Potential der Zeit zu nutzen. Eine zeitlich gedachte Erziehung vermag die pädagogische Intuition nicht nur besser zu artikulieren, sondern auch angemessener zu theoretisieren. Wobei die Zeit als modale Zeit begriffen wird, das heißt als Gliederung der Zeiterfahrung durch die qualitativen Differenzen von Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft. Damit zerbricht die Vorstellung einer linearen, quasi-räumlichen Einwirkung auf Bildungsprozesse. Die Zukunft ist nicht Teil einer pädagogischen Wirklichkeit, die als seiende auf uns zukommt. Vielmehr ist sie in der Zeit erzeugte Konstruktion von Wirklichkeit, die nicht nur anders ist als die Vergangenheit, sondern auch neu.

Die Zeit ermöglicht ein alternatives Verständnis pädagogischer Wirklichkeit. Dies wird anhand zweier Grundkategorien der Erziehungswissenschaft, Wissen und Kommunikation, gezeigt. Als Brücke von der Analyse der Zeit zur Pädagogik des Wissens dient das Konzept der Evolution. Einheit der Evolutionstheorie ist der sich in seiner Umwelt mit dieser entwickelnde Organismus. Im Rahmen der Theorie autopoietischer Systeme ergibt sich eine Verbindung zum erkenntnistheoretischen Konstruktivismus. Wissen entsteht als subjektive Leistung eines Organismus, dessen Organisation und Kontextabhängigkeit den kognitiven Mechanismen Einschränkungen auferlegen. Die Wissensbildung beruht auf der Kopräsenz strukturell gekoppelter Systeme, die für einander Umwelt sind.

Genausowenig wie das Wissen kann die Kommunikation als eine Vorgabe betrachtet werden, von der die Erziehung ausgehen könnte. Pädagogische Kommunikation ist weder Übertragung von Wissen, noch beruht sie auf Einfühlung oder Verstehen. Als Operateure ihres Bewußtseins vermögen Menschen weder andere noch sich selber unmittelbar zu verstehen. Kommunikation entsteht aus Kooperation. Da kognitive Systeme informationell geschlossen sind, emergieren Bedeutungen als subjektive Eigenleistungen. Pädagogische Kommunikation ist daher auf präkommunikative Formen der Interaktion verwiesen. Erzieher und Edukand vermögen sich zu verständigen, wenn ihre subjektiv konstruierten Bedeutungsfelder funktional übereinstimmen.

Aus der Rekonstruktion der pädagogischen Grundbegriffe des Wissens und der Kommunikation ergibt sich die theoretische Notwendigkeit, Erziehung und Unterricht als soziale Situationen zu begreifen. Eine raumbezogene Theorie vermag diesen Anspruch nicht einzulösen. Erst die zeitliche Konstruktion pädagogischer Wirklichkeit erschließt der Erziehungswissenschaft die Dimension der Sozialität. Als Medium pädagogischer Sozialität wird die Reziprozität postuliert, die sich in verschiedenen Formen konkretisieren kann (Vertrauen, Anerkennung, Gespräch, Spiel etc.). Durch reziproke Beziehungen gewinnen die institutionell nur schwach gestützten pädagogischen Situationen Dauerhaftigkeit. Die Konstruktion von Erziehung und Unterricht als soziale Wirklichkeiten erlaubt es, die Paradoxien der herkömmlichen Pädagogik aufzulösen

Pressestimmen


Herzog legt nicht weniger vor als eine Generalabrechnung mit einer Pädagogik, die sich über den Zögling und seine Interessen erhebt und immer versucht, ihn autoritär zu vereinnahmen, und dann - folgerichtig - den Entwurf eiens Konzepts, das ohne jede Bescheidenheit beansprucht, die Schwierigkeiten, Paradoxien und Irrwege pädagogischen Denkens aufzulösen oder zumindest einen neuen Anfang zu finden, der aus diesen Schwierigkeiten herausführen kann.
JöS, Die Deutsche Schule, 99. Jg. 2007, H. 3.
Verdienst des Buches ist eine Analyse der Metaphern als ein semantischer Zugang, der als interessante Alternative zu einem verbreiteten naiven Realismus sowohl in der historischen Bildungsforschung als auch in der Entzifferung pädagogischer Praxis angesehen werden kann.
Dr. Rita Casale, Zeitschrift für Pädagogik, Heft Juli/August 2003.
Walter Herzog ist angetreten, verkündet Detlef Horster, eine der klassischen pädagogischen Paradoxien aufzulösen: wie die Kultivierung der Freiheit, wie Erziehung ohne Zwang möglich sei. Dafür bemüht der Autor den Soziologen Niklas Luhmann, verrät Horster, verabschiedet die Raum-Metaphorik (gemeint ist, dass der Erzieher auf einer höheren Warte stehe und darum mehr Überblick habe als der zu Erziehende) zugunsten einer Zeit-Metapher, die Erziehung als evolutionären und ebenbürtigen Prozess begreift. Und nun ruft der Rezensent ein imaginäres »Ha!« aus, denn neu findet er Herzogs Kritik an der Pädagogenzunft überhaupt nicht, ihn wundert nur, dass man sich, kaum habe man sich an die wissensorientierte Pädagogik dank PISA-Studie gewöhnt, nun wieder am Habitus orientieren soll. Herzogs Überlegungen klingen Horster zu idealistisch, zu idealtypisch; er habe längst nicht alle Paradoxien auflösen können, wie etwa die, dass Erwachsene einen Wissensvorsprung hätten, oder dass Kinder die Regeln des Zusammenlebens oder Wissensstoff erlernen müssten; insofern gebe es Zwang, insofern gebe es Asymmetrie, auch wenn es zu einer demokratischen Gesellschaft dazugehöre, den anderen als gleichwertig anzukennen. Bei Luhmann ließe sich lernen, schließt Horster, dass es noch viele andere - unlösbare - Paradoxien gebe.
Detlef Horster, Süddeutsche Zeitung, 06.05.2003.